Die Ontologie des Buches ist tot, vorausgesetzt es hat sie jemals gegeben. Wenn man dieser Einsicht folgt, dann kann man über Geschichten neu nachdenken und vielleicht fällt noch die ein oder andere Mark ab.

Erst einmal muss man vom hohen Ross absteigen und die Philosophenehre an den Platze rücken, an den sie gehört. Also: Was soll diese jovial-paternalistische** „Ontologie“ heißen? „Ontologie“ wird gerne beim Philosophieren über die Welt gebraucht und bedeutet übersetzt „Lehre des Seienden“, was überhaupt keinen Deut erklärt, was mit diesem Begriff gemeint sein könnte. Immerhin klingt er bestechend. Manche Gelehrten unterscheiden noch zwischen „ontologischen“ und „ontischen“ Aspekten, aber da hört für mich endgültig der Spaß der Wortklauberei auf. Ich habe keine Ahnung, was der Unterschied sein soll. Die „Ontologie des Buches“ kann ich hingegen erklären. Es ist die Einheit, die Antwort auf die Frage: Was ist ein Buch?
Grundsätzlich kann man sagen, ein Buch ist ein Gegenstand, der aus Papier, aus beschrifteten, oft durchnummerierten Seiten besteht und durch Leim, Fäden oder Ähnliches zusammengehalten wird. Auf der Vorderseite sind der oder die AutorInnen vermerkt, darunter steht der Titel des Buches, die meisten Bücher haben auch noch eine ISBN-Nummer, die im Verkauf des Buches eine Rolle spielt.
Ein Buch hat einen Inhalt, erzählt etwas, gibt über etwas Auskunft, oft wird eine Geschichte entsponnen. Man kann die Vielzahl an gedrucktem Gut in Kinderbücher, Kirchenbücher, Kochbücher oder wissenschaftliche Arbeiten einteilen, viele dieser Bücher enthalten Abbildungen oder andere bildliche Darstellungen.
Das wäre die offensichtliche, die naheliegende, gegenständliche Eingrenzung eines Buches. Diese Beschreibung ist allerdings, meine gerümpfte Nase sei verziehen, falsch. Nicht nur zu kurz gedacht, sondern schlichtweg ein Traumgebilde. Um den ausländischen Ausdruck nochmals zu bemühen. Die Ontologie des Buches ist viel mehr und muss in Zukunft noch breiter gedacht werden. Es muss erkannt werden, dass die LeserInnen ein Recht auf die Wahrheit haben.

Der zweite Anlauf: Was ist ein Buch?

Bücher sind Gespräche über Bücher. Ein ewiger Fluss aus Wort und Bedeutung. Woher kommen diese Gespräche?
Welches Bild haben Sie von folgenden deutschsprachigen SchriftstellerInnen, wie werden sie in Nachschlagewerken betrachtet, haben Sie jemals etwas von Ihnen gelesen, kennen Sie die Namen: Theodor Mommsen, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Heinrich Böll, Isaac Bashevis Singer, Elfriede Jelinek? (Singer schrieb natürlich nicht auf Deutsch, sondern auf Jiddisch. Er muss aber gerechterweise hinzugezählt werden, wenn ich auch Jelineks, in österreichischer Sprache verfasste Werke, einbeziehe).
Könnte Ihnen Folgendes eingefallen sein? Römische Geschichtsschreibung, Weberaufstand, Nationalismus, Stunde Null, Polen, Gedichte? Sollte das der Fall sein: warum? Woher wissen Sie von Schreiberlingen, wenn Sie noch nie ein Werk von ihnen in den Händen hielten? Was denken Sie über diese Menschen? Welche Bedeutung hatten diese SchriftstellerInnen und vor allem, wie änderte sich ihr Bild in der Öffentlichkeit, nachdem sie den Literaturnobelpreis erhalten haben? Wurden ihre Arbeiten höher geschätzt, stiegen die Bücherverkäufe, die Buchbesprechungen?

Bücher sind Gespräche über Bücher, die anregen, Bücher zu kaufen. Gewollt oder unterbewusst. Warum kaufen Sie ein Buch? Kaufen Sie überhaupt? Laden Sie es elektronisch im Internetz herunter? Was bleibt noch übrig aus der alten Welt, wenn der viel beschworene Geruch, das Gefühl des Umblätterns fehlt, die Hand auf den Finger eingeschränkt wird, der nur noch auf einen Bildschirm tippt? Wie wichtig ist die Buchgestaltung, der Satzspiegel, die Schriftart? Warum können sich Reihen von Diogenes oder Suhrkamp Wissenschaft erlauben, ihre Bücher in den immer gleichen Farben und Gestalt zu drucken? Wo beginnt Wiedererkennung, wo fängt Langweile an? Alles nur Zierwerk oder grundlegender Unterschied?
Welche Menschen reden wo und wie über Bücher. Im besten Falle kennen Sie Maxim Biller persönlich und beim mittäglichen Kaffee empfiehlt er Ihnen eine brasilianische Autorin (vielleicht Clarice Lispector?) oder Sie folgen Sibylle Berg auf Twitter und dort wird Ihnen der Anstoß zum Lesen gegeben. Herr Biller ist außerdem fester Bestandteil des Literarischen Quartetts. Eine Fernsehsendung, die Bücher bespricht und Meinung macht. Sie erzeugt Aufmerksamkeit und Verkaufszahlen.

Bücher sind Geschichten, die andere Geschichten mit sich tragen, neu erfinden, verstoßen oder ausblenden. Eine Geschichte erzählt viele Geschichten, denkt alte Erzählungen, Sprachen und Querverbindungen mit. Die Buddenbrooks ist auch ein Buch über Thomas Manns Familie, Feuchtgebiete auch eine Geschichte über Charlotte Roche. Oder? Herr der Ringe denkt nordische Mythologie mit, Fifty Shades of Grey hat Anleihen bei Twilight, beim Zarathustra steckt die Bibel mit drin, die sowieso sprachlich und inhaltlich überall haust. Genauso stecken der Minnesang und Caspar David Friedrich in einer zeitgenössischen Liebeskomödie. Star Wars gibt es als Filmreihe und Bücherwelt, Krieg und Frieden hat Überschneidungen mit Game of Thrones. Beim Bachmann-Preis werden neuerdings die Lesenden mit künstlerisch wertvollen Filmeinspielern vorgestellt. Bevor ein Wort verlesen ist, wird bereits eine Bilderwelt angestimmt. Bücher sind Kopfkino, aber die Bilder dieses Films kommen nicht nur von den Buchstaben, sie vereinen Pinselei, Filmstillleben und Schriftsatz.
Das Buch ist eingebettet in ein engmaschiges Netz aus Gesprächen. Das Buch ist geprägt durch das Leben der SchreiberInnen, ihren Geschichten, ihren Auftritten, geprägt durch Werbung, durch andere Bücher, durch Besprechungen, Empfehlungen, Verrisse, Internetz-Beiträge, Fernsehsendungen, Lebensgefühle, öffentlichen Erregungen, Schulbildung, Sprachen, Länder, Einkommen, Verkaufszahlen, Freizeit.

Letzter Schritt: Was jetzt?

Soweit zur Bestandsaufnahme. Menschen haben Angst, dass das Buch verloren geht, die Menschheit keine Bücher mehr liest. Das stimmt auch. Das bedeutet aber nicht, dass damit auch alle deutschen Verlage aussterben müssen, sie müssen sich nur neu verorten. In Zukunft müssen Verlage das Buch als einen Fleck in einem Netz vieler Angebote sehen. Vielleicht führt die Beliebtheit des Schreibers zu den Buchverkäufen, oder große, spannende Lesungen fördern die Beliebtheit. Kurzfilme können genauso gleichbedeutend für das Werk sprechen wie ein Buchtitel. Zu einer Buchveröffentlichung kann auch eine Hemden-Reihe gefertigt werden. Bierfeste für Kapitelüberschriften, Verlosungen von Schreiber-Bleistiften, Liebesbriefe aus Lebkuchen, Kurzgeschichten, die sich auch auf einem Telefon lesen lassen, die hörbar sind, greifbar. Versteckspiele mit Stecknadeln im Bücherwald, Malwettbewerb mit Gunter Grass* und Gustav Mahler, Gespräche mit dem Geiz, Bilder statt Worte, Einfachheit statt Wust, Wurst statt Wort, Luftschiffe mit eindeutiger Werbung, mehr Freiheit mit Zwiebeln im Betrieb, Essen als Begründung im Einzelnen, Goethe als Komiker, Hesse als Kirchenvater, Autor X als Lichtfigur am Tag, wenn sich ein gefärbtes Laken über seinen strahlenden Kopf legt. Mehr mitmachen, weniger erwarten, Auswahl anbieten, Auswahl einschränken, Kreise ziehen, Kreise finden, Greise einbinden, Kreide aus der Schublade kramen. Ereignisse, Ergebnisse, Erscheinungen.
Keine Anhängsel. Eigene Kunstwerke fordern.

*Im gesamten Abschnitt werde ich bis auf fünf am Anfang platzierte Wörter auf fremdsprachige Fachausdrücke verzichten. Ich fördere damit die rosige Zukunft der Deutschen Sprache gemäß der Fruchtbringenden Gesellschaft. Nieder mit dem Fremdsprech!
**jovial heißt übrigens „von oben herab“ und paternalistisch „bevormundend“
*** Dem stets aufmerksamen Leser sei natürlich nicht entgangen, dass der Vorname des Hochwohlgeborenen Herrn Grass selbstredend Günter lautet und der Liebe zum Deutschen Schriftgut entsprechend mit dem unvergleichlichen Umlaut Ü zu schreiben sei. Die Tatsache, dass Herr Grass eigentlich ein geborener Herr Graß ist, aber aus unverständlichen, sich durch den Einfluss, der unter dem Begriff Deutschtümelei zusammenfassenden, grundlegend falschen Gedanken entschied, das schöne ß, eindrücklichster Ausdruck Deutscher Sprachgewalt, klarster Zeichen des Deutschen an sich (die Schweizer Gipfelrepublik ist zu grobschlächtig, diesen Buchstaben zu verwenden, sie ist zu sehr von den Welschen unterwandert, als dass sie diesen Verrat auch nur bemerken würde), der einzige Buchstabe im Deutschen, der uns von der Lateinischen Schriftwelt abgrenzt, unsere größte Erfindung (andererseits erfand unser Landesvater Karl der Große überhaupt erst diese Schrift, in der heute doch Abermillionen ihre Aussagen tätigen), diesen zu meiden, ist eine Trauer, die viel Trost braucht, sie sei einzig mit seinem Slawischen Blute zu erklären.