Erzählen in VR 2.0

von Guido Graf

Um uns selbst von der realen Gegenwart zu überzeugen, von dem Jetzt, vertrauen wir vor allem unseren Augen und dem, was wir ertasten können. Dass das funktioniert, muss man glauben können. Genau dafür erzählen wir Geschichten. Und eben dieser Erzählprozess, der uns glauben lässt, dass wir uns an einem Ort befinden, an dem wir tatsächlich nicht sind, lässt sich mittlerweile ganz gut hacken. Das nennt man dann Virtual Reality.

Der Ausdruck ist nicht neu, sondern wurde 1985 geprägt von dem heutige Renegaten und früheren Atari Programmierer Jaron Lanier, nebenbei noch Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 2014 – was ebenso verstörend wie passend ist. Immer wieder wurde versucht, die Technologie so zu entwickeln, dass sie für einen Massenmarkt interessant wird. Da ist bis vor wenigen Jahren nicht viel passiert. Noch in den neunziger Jahren wurde Menschen regelmäßig unwohl, wenn sie etwa den Virtual Boy von Nintendo ausprobierten. Reaktionen, die nicht von ungefähr an die Frühzeit des Kinos und die von der Leinwand induzierten Realitätsschocks erinnern.

Plowing the Dark

Bezeichnend eigentlich, dass die avanciertes Positionen zum Verhältnis von Erzählen und Virtual Reality (VR) lange Zeit der Roman Plowing the Dark von Richard Powers formuliert hat, erschienen im Jahr 2000. Ein natürlich vom Militär finanziertes Labor für Virtual Reality, „Cavern“ genannt, erschafft in der Nähe von Seattle nicht nur die Höhle von Lascaux, sondern gleich auch noch eine virtuelle Nachbildung der Hagia Sophia, in der man umherwandeln kann, inklusive Raumklang. In einem parallelen Erzählstrang erschafft sich ein von der libanesischen Hisbollah entführter Amerikaner in der Isolation seiner Gefangenschaft eine virtuelle Welt allein in seiner Hirnschale. Stoff dafür liefert ihm das einzig verfügbare Buch, ein zerfleddertes Exemplar von Dickens‘ Great Expectations, und seine Erinnerungen. Dieser permanente Self-Hack dient allein dem Überleben.

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Schreiben wie Ikarus

VR-Technologie entwickelt sich derzeit so schnell, dass es schwierig bis überflüssig ist, VR in Bezug auf bestimmte Geräte zu definieren, wie etwa die Datenbrillen, die gegenwärtig für diverse Smartphones auf den Markt gebracht werden. In ein oder zwei Jahren kann das schon wieder obsolet sein. In Bezug auf journalistische oder literarische Erzählstrategien sind daher eher grundsätzliche Aspekte interessant als bestimmte auf die Geräte abgestimmte Features. Immer geht es darum, durch künstliche Stimulation des sensorischen Apparates ein definiertes Verhalten in einem Organismus (einem Leser, Zuschauer, Zuhörer etc.) zu induzieren, ohne dass diesem Organismus die Interferenz bewusst ist.

Ein gutes Beispiel für die Funktionsweise gegenwärtiger VR und möglicher Anwendung ist der Vogelflugsimulator Birdly, entwickelt vor zwei Jahren von Max Rheiner im Institut für Designforschung der Zürcher Hochschule der Künste. Man liegt bäuchlings und angeschnallt auf einer Liege mit beweglichen Gliedern, um dann durch den Himmel zu stürzen. Man fliegt. Aber nicht in einem Cockpit oder in einer allzu enger Sitzreihe der Economy-Class, sondern man fliegt selbst wie ein Vogel: man macht unwillkürlich Bewegungen, spürt den schneidenden Wind im Gesicht. Schaut man nach links oder rechts, sieht man Federn. Man hat sich in einen Vogel verwandelt. Das Hirn arbeitet natürlich noch eine ganze Weile mit. Aber allzu lange hält das niemand aus. Es verschlägt einem buchstäblich den Atem.

Denn der Unterschied zu bisherigen, aber auch zu vielen gegenwärtigen VR-Anwendungen ist die Möglichkeit zu einer intuitiven und sinnlichen Erfahrung von radikaler Intensität. Die Vorstellung darüber, was mit VR alles möglich ist, in der Medienproduktion und eben auch aus journalistischer und kreativer Perspektive, wird durch solche Entwicklungen fundamental verändert. Mittlerweile ist es möglich, etwa mit den Head Mounted Displays von Oculus Rift, dem führenden Hersteller von VR-Geräten, die erzeugten Bilder mit jeder noch so geringen Bewegung des eigenen Kopfs verzögerungslos zu synchronisieren. Farben passen sich ohne merkliche Übergänge an, die Verortung des Betrachters im Raum, die Entfernungen: alles passt. Olfaktorische Funktionen sollen demnächst auch noch kommen.

Mehr noch: die Rechenleistung erlaubt es der Software, Bewegungen zu antizipieren und entsprechend Bilder zu rendern, wenn sie eigentlich noch gar nicht erzeugt worden sind. Allein dieses simple Faktum markiert einen Scheidepunkt. Und gerade als Birdly 2014 erstmals öffentlich vorgestellt wurde, ging die Meldung durch die Medien, dass Facebook Oculus Rift gekauft hat. Die Verknüpfung von VR mit Webanwendungen und Social Media eröffnet ein weiteres großes Spielfeld.

Die Immersion

Die New York Times hat unlängst eine eigene App dafür entwickelt. Und diese Zeitung ist nicht die einzige, die sich mit VR versucht. Mit der NYTVR-App ist es nur besonders einfach. Man braucht außer der App nur noch für 20 Euro ein Headset aus Pappe, das Smartphone wird hineingesetzt und schon kann die Reise losgehen. Reportagen mit 360°-Kamera aufgenommen schicken den Betrachter mitten hinein in Unterwasserexpiditionen, in Wahlversammlungen des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs oder hinaus zu Straßenkindern wie es sie millionenfach auf der Welt gibt. Die Erfahrung ist nicht so gewaltig wie mit Birdly, aber ob überwältigend oder bedrückend, immer wird eine ungekannte Nähe erzeugt, die Texten wie (konventionellen) Bildern eine neue Dimension hinzufügt.

Eine Pionierin auf dem Feld des VR-Journalismus ist die Amerikanerin Nonny de la Peña. Für sie gehören VR und Journalismus auf geradezu natürliche Weise zusammen: „I see the beauty and the ability of the story to be evocative and evoke change and give people deeper understanding and make people better global citizens. The goal of journalism is to keep an informed global citizenry.“ Wenn die induzierte Nähe mit dem Gegenstand der Reportage zusammenfällt, kann das gelingen. Etwa in der Reportage von Dan Pacheco, der 2014 mit Oculus Rift eine hundert Jahre alte Farm in Iowa portraitiert hat. Das Publikum wird hier selbst zum Akteur und kann hautnah miterleben, wie sich nicht nur ländliche Strukturen, sondern auch die Produktion von Nahrungsmitteln verändert hat.

„In traditional media, too, the desire to paint a cause or a person in sympathetic tones can conflict with impartial, hard-headed reporting. But the potential for empathy is even greater in the VR world, since viewers can bond far more easily with a 3D character they’re practically touching.“  Tom Kent (Associated Press)

Und wenn es dann für Journalisten etwa darum geht, heute und morgen zu überlegen, wie sie von den Verheerungen berichten können, die Fassbomben in Aleppo anrichten, von kenternden Booten im Mittelmeer oder Erdbeben in Nepal, könnte diese Verknüpfung hochinteressant werden. Durch künstliche Stimulation des sensorischen Apparates ein definiertes Verhalten bei Lesern, Zuschauern oder Zuhörern zu induzieren, ist eben auch Aufgabe von Journalisten.

Vor allem, wenn man zum sensorischen Apparat noch Erkenntnisprozesse hinzuzählt. Um Empathie und Verstehen zu ermöglichen für komplexe, scheinbar fern von der eigenen Lebenswirklichkeit ablaufende Ereignisse, kann mit VR ein wirksames Instrument zur Verfügung stehen.

Zahlreiche Beispiele gibt es auch bei RYOT. „Become the story“ lautet das Motto des Unternehmens. Für das erste VR-Experiment von RYOT vor ein paar Jahren wurde eine Einzelarrestzelle eines amerikanischen Zuchthauses nachgebaut. Hinein kam eine 360°-VR-Kamera und dazu wurde der O-Ton eines echten Insassen abgespielt. Und je länger man ihm zuhört und mit seinem Headset zugleich in der Zelle verharrt, umso näher rückt die bedrückende Wirklichkeit. Eine aktuellere, preisgekrönte Reportage über Aleppo dürfte jedem, der sie liest und dann auch noch via VR in die mörderische Stadt hineingeworfen wird, eine deutliche Vorstellung davon geben, warum Menschen von dort fliehen.

Was bleibt, ist die Frage, wie man bei all der Nähe und Intensität, die das Erzählen mit VR ermöglicht, auch wieder Distanz gewinnt. Eine Distanz, die zumindest aus journalistischer Perspektive notwendig ist. Fakten müssen stimmen, Recherche muss genau und transparent sein. Denn Überwältigung allein erzählt noch keine Geschichte und der Unterschied zwischen dem, was VR simuliert und stimuliert, und der nackten Realität sollte nicht verwischt werden.