Montag 10:24, mittlerweile wird zumindest Javascript in jeder Grundschule unterrichtet, die meisten Kinder können im Alter von zwölf Jahren wenigstens drei Programmiersprachen. Diejenigen von uns, die vor zwanzig Jahren geboren wurden, müssen sich jetzt in der Uni, da endlich die Relevanz von Algorithmen und Co. erkannt wurde, ihr erstes Semester damit rumschlagen.
Ich bin einer davon.
Dienstag 13:38, zu früh für das nächste Seminar. Nichts Neues auf facebook, biograph und tumblr und mein Google-connector am Handgelenk zeigt mir, dass keine Personen in der Nähe sind, die relevante Interessensüberschneidungen mit mir vorweisen. Ich schließe also ein Gespräch aus, um die Zeit zu überbrücken und begebe mich zum Prosaautomaten. Chipkarte aus dem connector entfernen, in den Automaten einlesen und schon scrolle ich durch die Domänenbibliothek. Einige Debütromane von Absolventen erscheinen unter den neuen Top-Downloads, meine Empfehlungen reichen von Emily Bronte zu Stephen King und ich entscheide mich für „best of“ Poe. Die Datei wird gedownloaded, meinem Konto werden 2 Euro abgezogen und nachdem ich den Chip wieder in meinen connector gebe, erscheint auf dem Display für die Synchronisationsdauer ganze zwanzig Minuten. Nicht vergleichbar mit der Zeit, die Menschen früher investiert haben, um ein Buch zu lesen. Dennoch ärgert es mich, denn je länger die Synchronisation desto unähnlicher ist der Text meiner persönlichen Individualsprache, in die Poes Gedichteband gerade umgewandelt wird.
Dienstag 14:02, Synchronisation beendet. Ich spüre wie die kurze Nadel aus dem connector fährt. Nun werden Individualsprach-Poe-Transmitter den Weg durch meine Blutbahn zu den Synapsen meines Langzeitgedächtnisses finden. In etwa elf Stunden kann ich meinem connector als Interesse Poe hinzufügen.
Dienstag, 14:34, Austausch über die vergangene Stunde beendet. Ein kurzes Summen. Jetzt sind alle Netbooks hochgefahren und wir können uns wieder unserem Forschungsprojekt widmen.
Jeder von uns erhält neue Zugriffsberechtigungen zu einem alten WhatsApp-Account, der die verschiedenen Status seines Besitzers aufgezeichnet und gespeichert hat. Daraus ergibt sich ein durchschnittlicher Katalog aus Zitaten, Smileys und Sprüchen von 156 Posts.
Nachdem der connector jegliche Kommunikationssoftware so gut wie ausgelöscht hat, ist vor allem die WhatsApp-Cloud zu einer Art Freiwild geworden und Chatverläufe wurden interpretiert, veröffentlicht, analysiert und auch auf zwischenmenschlicher Ebene komplett ausgeschlachtet.
In unserem Seminar beschäftigen wir uns allerdings mit den Statusmeldungen und gestalten Personenbilder, versuchen dem Status einen zeitlichen und persönlichen Rahmen zu geben und erschaffen dadurch eine fiktive Person eines gestorbenen WhatsApp-Accounts. Unser Dozent witzelt gern, dass so seine besten Romanfiguren entstehen würden.
Donnerstag 08:15, wie immer pünktlich. Bevor ich den blauen Salon betreten darf, wird mein connector dahingehend überprüft, ob die Löschung der letzten Sitzung erfolgreich war. Vorgekommen ist es bisher zwar noch nie, aber wenn jemand von uns tatsächlich den Text wiedererkennen würde, dann würde unser Projekt eine unschöne Manipulation erleben. Schließlich geht es darum den gleichen Text immer wieder unter unterschiedlichen Umständen neu zu lesen.
In unserer Gruppe verändert sich immer die Musik oder Hintergrundgeräusche im Raum. Die Gruppe nach uns liest mit verschiedenen Temperaturen, die letzte heute Abend unter wechselndem Alkoholeinfluss.
Hätte ich es mir aussuchen können, dann wäre ich gern in der Gruppe, die in einer immer anderen Haltung liest. Aber noch vor Beginn des Experiments wurden alle Teilnehmer kategorisiert – Größe, Gewicht, Alter, Vorlieben, Abneigungen, Interessen und und und – und in möglichst heterogene Einzelgruppen geteilt. Diese vereinfachte Klassifizierung hat zwar zu einigen Protesten geführt, aber da die Idealisten ohnehin nicht in einer Gruppe sind, hatten wir damit später keine Probleme.
Im nächsten Semester wird es das gleiche Seminar mit vorgetragenen Texten geben.
Donnerstag 08:22, wir hören ABBA.
Donnerstag 09:45, die Musik wird abgeschaltet. Ich halte meinen connector gegen den Sensor und meine körperlich messbaren Reaktionen werden notiert, danach spreche ich wie ich den Text wahrgenommen habe, woran ich mich erinnere und wie ich ABBA während des Lesens empfunden habe.
Ziel dieses Projektes ist es am Ende meines Studiums meine Worte so gut auf Reaktion und Gegenreaktion planen und einsetzen können, dass kein Werbetext, den ich verfasse je sein Ziel verfehlt und ich bei keiner meiner Reden je Angst vor dem Publikum haben muss.
Das ist zumindest der Traum.
Donnerstag 16:27, ich logge mich in den Server ein. Unser Plot findet in einem Büro statt, überwiegend zumindest, letzte Woche wurde von einem Kommilitonen ein Kiosk hinzuinstalliert, weil es für seine Figurenentwicklung unerlässlich sei, dass er sich vor der Arbeit eine Packung camel kaufen kann. Dadurch wurde unser „Spielfeld“ größer und es hat sich keiner besonders beklagt, vor allem da mittlerweile sehr viele unserer Figuren zu Rauchern geworden sind und wir so gut Privatgespräche auf dem Balkon einbetten können.
Während jeder von uns mit seiner Figur den eigenen Bürotagesablauf durchspielt, mit den anderen agiert und so eine Art Rollenspiel erlebt, generiert das System die dazugehörige Story, die am Ende des Semesters dann einige Male überarbeitet und komprimiert wird, dann aber als Buch in jeder Online-Bib erscheinen wird.
Unsere Erstsemesteranthologie.
Als ich meiner Mutter davon erzählte fragte sie, ob das wohl so etwas wie Sims sei.
Donnerstag 18:15, die Dozentin betritt den Raum. Frau Heger, so stellt sie sich vor, ist ein Part der Autorengemeinschaft um die „Grizzly-Saga“ – eine Story die von neun verschiedenen Autoren, aus neun verschiedenen Perspektiven geschrieben wurde und in neun verschiedenen Büchern herausgekommen ist und damit der Vorreiter des Erfolgskonzepts „Kollaboratives Schreiben“ geworden ist.
Wir haben die große Ehre von jedem dieser neun Autoren den persönlichen Arbeitsprozess, die Zusammenarbeit mit den anderen und über Schwierigkeiten und Hürden, den ein oder anderen, aber immer gleichen Gag und vor allem über die Entstehung dieser Idee informiert zu werden. Diese neun Vorträge sind genauso wie die Bücher im Kern doch ziemlich gleich.
Donnerstag 18:17, ich checke facebook.
Donnerstag 18:18, ich checke biograph. Die App befriedigt überwiegend mein Geltungsbedürfnis und die Hoffnung, dass ich nicht so leicht vergessen werde oder meine Internetaktivitäten genauso albern irgendwann von jungen Studenten aufgearbeitet wird, wie der der WhatsApp-Nutzer. Eigentlich erweitere ich nahezu täglich meine Biographie und wenn ich das nicht mache, sorgen sich meine biographer, also meine Follower, darum, dass ich schon mein letztes Kapitel getippt habe. Eigentlich albern, aber schließlich bezahlen sie dafür, dass sie meine Lebensgeschichte synchronisieren dürfen.
Donnerstag 20:12, ich beschließe einen Kurztrip zu buchen. Die Vorlesung morgen lasse ich mir einfach von einer Freundin aufzeichnen und ziehe sie mir dann in Individualsprache auf meinen connector.