Die Schwebebahn vom Hildesheimer Hauptbahnhof zur Domäne Marienburg sollte schon im Jahr 2064 fertiggestellt werden, aber es war ja klar, dass das nichts wird. Wie ein Höhlenmensch steige ich in den Bus und krame passend zur Retro-Atmosphäre meinen veralteten Enhanced-Social-E-Reader heraus, auf dem sofort ein Werbe-Pop-Up erscheint: „Holen sie sich jetzt ihr Upgrade auf Textify Premium, nur 5,99€ monatlich für Studierende!“ Obwohl ich die App sehr gerne mag, kann ich mir das beim besten Willen nicht leisten.

Mir sitzt eine ältere Frau schräg gegenüber, die in Rentner-Manier lautstark in ein Hologramm-Videotelefonat auf ihrem Smartphone verwickelt ist: „Aber was willst du denn damit später mal machen, Liebes? Gerdas Enkelin hat erzählt, dass man an der Uni gar nicht mehr selbst schreiben lernt, sondern sich nur anguckt, was die früher geschrieben haben… Ich weiß ja nicht, selbst wenn du so gut bist, wer liest denn heutzutage noch Bücher?“ Bei diesem Satz muss ich an die üppige Literatursammlung meines Vaters denken, ein ganzes Zimmer hat er zur Bibliothek gemacht. Aber lesen? So ein Quatsch, sammeln und damit angeben, selbstverständlich, aber selbst lesen macht heute ja wirklich niemand mehr. Und selbst wenn jemand etwas gegen die zahlreichen Vorlesetools mit Text-To-Picture-Funktion hat, die das Geschichten erzählen bzw. erzählt bekommen revolutioniert haben, wird er ja kein klumpiges Buch mehr anrühren!

Doch obwohl nur noch wenig selbst gelesen wird, ist die Kunstform Literatur entgegen dunkler Befürchtungen und Prognosen noch nicht ausgestorben, sondern hat durch die vielen Möglichkeiten zur Individualisierung der Lektüre einen regelrechten Boom erlebt. Ich schaue mir die wöchentlichen Litcharts an und muss schmunzelnd feststellen, dass 8 von 10 Titeln kulturjournalistische Lektüre über das Lesen und Schreiben sind. Wenn man tatsächlich noch Autor wird, schreibt man meist über das Schreiben selbst oder wie es früher zu Zeiten der analogen Literatur aussah.

Denn die erwähnten Individualisierungstools beziehen sich größtenteils auf alte Klassiker, die dadurch neu belebt werden, jedoch ist der Großteil der Autorengemeinde der Meinung, das im Bereich Fiktion schon „alles gesagt“ wurde und die heutige Gesellschaft zu effizient dafür wird. Ein Kommilitone schreibt mir, dass das Seminar „Geschichte der Literatur ab der Postmoderne“ heute ausfällt. Das passt mir ziemlich gut, denn zeitgleich wird eine Vorlesung am Hauptcampus gehalten, bei der es um die wohl bahnbrechendste Erfindung der letzten Jahre geht: ein Schweizer Forscher hat eine Technologie entwickelt, die pure Informationen in die Köpfe der Konsumenten schickt, so dass diese in Zukunft auf jegliche andere Medien verzichten könnten.

Dies dürfte den letzten überlebenden Büchern und Zeitschriften den Rest geben, aber auch den digitalen Literaturformen einen enormen Schnitt durch die Rechnung machen. Eine Welt fast ohne Medien, ist dies die „Krone der informativen Schöpfung“? Platons Schriftkritik, später die Feindseligkeit gegenüber dem Internet, selbst die jüngste Skepsis bezüglich der Vorlesen-lassen-Technologien wirken gegenüber diesem „Pure Information Transfers“ lächerlich, wenn man bedenkt, worin ihr Kern bestand: die Möglichkeit, immer wieder in ein Buch zu schauen, macht den Leser vergesslich und faul, genauso den Smartphone-Nutzer, der jederzeit und überall einfach alles googlen kann? Zumindest (inter-)agierten sie mit einem Medium. Mir kommt der dystopische Gedanke, dass wir zukünftig wahrscheinlich kein Essen in der bisherigen Form mehr zu uns nehmen, sondern irgendwie alles für den Körper Nötige roh und direkt durch eine elektronische Pumpe erhalten.

Die Effizienz rückt alles andere in den Hintergrund, es geht nicht mehr um das wie, sondern nur um das was im Leben, jegliche Ästhetik geht mitsamt der Kunst verloren. Man wird sich keine Gedanken mehr über die Zukunft der Medien oder Künste machen, weil sie längst allesamt ausgestorben sind; schon jetzt wird mir ja im Literaturstudium beigebracht, dass die Pointen das einzig wichtige am Geschriebenen sind, da sie der weitestgehend verachteten Kunstform eine gewisse Effizienz verleihen. Der Twitteratur-Nobelpreisträger T. Salamanca bezeichnete dies so prägend mit „Litfutur is dead!“. Immerhin ist diese dunkle Zukunft noch ein wenig entfernt und wir schreiben erst das Jahr 2066, dennoch beschleicht mich ein unwohles Gefühl.

Was hätte man vor 50 Jahren dazu gesagt, dass Bücher nur noch von abgeschotteten Romantikern und Ästheten gelesen werden, ansonsten lediglich als Dekoration, Brennstoff oder Statussymbol für Bildung herhalten? Damals hatten sogenannte Enhanced E-Books keinen Erfolg, das digitale Social Reading stand noch in den Startlöchern und die einzige Möglichkeit, nicht selbst zu lesen, waren vielleicht trockene Hörbücher. Was würde ich dafür geben, einem Kommilitonen aus dieser Zeit einen meiner Enhanced-Social-E-Reader vorzuführen! Persönliche Auswahl des Erzählers, untermalende Hintergrundmusik, die den individuellen Gefühlen des Hörers entsprechen, Protagonisten und wichtige Gegenstände können als Hologrammdatei angezeigt werden, sofern man sie nicht der eigenen Vorstellung überlassen will, alles in der Größe eines Hosenknopfes. Damals hätte man denjenigen wahrscheinlich ausgelacht, der prophezeite, dass die Plattform „log.os“ im Jahre 2025 Facebook aufkaufen würde, wie es dann tatsächlich der Fall sein sollte. Der Bus hält an der Endstation und reißt mich aus meinen Gedanken. Wahrscheinlich ist es besser, nicht zu pessimistisch zu denken, sondern tatkräftig an der Zukunft mitzuwirken. Aus diesem Grund steht meine Wahl für das kommende Projektsemester schon jetzt fest: „Litfutur 49.1.2“.