Lesen bedeutet, sich Zeit zu nehmen und seine Konzentration auf einen Text zu richten – sei es Dantes Göttliche Komödie oder ein Artikel im Lokalteil. Entspannter ist, sich kurze Tweets durchzulesen und Bilder auf Instagram oder Snapchat anzuschauen. Kein Wunder also, dass die Literatur im klassischen Sinne vor die Hunde geht… Aber muss sie das wirklich? Oder ist die digitale Revolution nicht vielmehr eine Chance für Autor_in und Verlag? Und reicht es aus, wenn Lektüre digital bereitgestellt wird, oder muss sie grundsätzlich neu gedacht werden?
Statt ausschließlich direkt für Produkte zu werben, können Verlage auf Twitter, Snapchat und Co. Gewinnspiele und Wettbewerbe organisieren, die Follower einbinden und so auch indirekt Werbung betreiben. Für Autor_innen bieten die sozialen Medien neben bloßer Repräsentation und netter Abwechslung zum tristen Schreiballtag besonders die Möglichkeit, neue Leser_innen zu gewinnen und den Kontakt zu diesen zu pflegen. Videos zum Schreibprozess oder hinter den Kulissen im Verlagswesen vermitteln ein Gefühl der Nähe, welches durch direkte Rückmeldung auf Kommentare gestärkt werden kann. Hierbei kann die App Snapchat eine wichtige Rolle spielen. Bilder und Videos können ungefiltert, also hautnah, echt und authentisch für einen kurzen Zeitraum geteilt werden. Außerdem bietet die Funktion, auf sozialen Netzwerken zu „liken, sharen, spreaden“ usw., eine nicht zu unterschätzende direkte Rückmeldefunktion.
Um die Internetnutzer_in nicht nur an das jeweilige Produkt, sondern an Literatur überhaupt heranzuführen, wurden bereits Versuche unternommen, diese in das passende Format zu bringen: Alexander Aciman und Emmett Rensin schrieben 2009 das Buch „Twitterature: The World’s Greatest Books Retold Through Twitter“ (2011 ins Deutsche übersetzt), in dem Klassiker der Weltliteratur in kurzen Tweets zusammengefasst werden.
Florian Meimberg verfasste auf seinem Twitter-Account sogenannte „Tiny Tales“, im Deutschen gerne mit „Bierdeckelgeschichten“ bezeichnet, also kurze Geschichten mit höchstens 140 Zeichen. 2010 erhielt er den Online Grimme Award und 2011 wurde mit „Auf die Länge kommt es an: Tiny Tales. Sehr kurze Geschichten“ das entsprechende Buch veröffentlicht.
Mallory Ortberg versucht in ihrem 2014 erschienenen Werk „Texts From Jayne Eyre: And Other Conversations With Your Favorite Literary Characters“ ebenfalls, Klassiker attraktiv für die Online-Generation zu gestalten und schreibt im Stil von Chats; Platon versucht zum Beispiel (erfolglos), seinem Bruder Glaukon das Höhlengleichnis per Textnachricht verständlich zu machen.
Noch einen Schritt weiter geht Prerna Gupta, die mit ihrer App „Hooked“ eine Bibliothek an Kurzgeschichten im Chatformat entwickelt hat. Die Nutzer_innen brauchen nicht mal von ihrem Handy aufzusehen, um ins Buch zu schauen, sondern lesen die kurzen Chat-Verläufe, von denen sie eine kostenlos pro Tag oder je nach Abonnement auch mehr erhalten. Die Gemeinsamkeit aller genannten Projekte ist, dass die Nutzer_Innen sich auch nur für einen kurzen Zeitraum mit dem Lesen beschäftigen können und sich in „bekanntem Territorium“ befinden.
Auch wenn in Zukunft natürlich nicht jedes Buch im Chatformat geschrieben wird, bietet dies doch eine Möglichkeit der (niedrigschwelligen) Literaturvermittlung an die Online-Generation. Dieser dürfte es herzlich egal sein, dass die klassischen Literaturformate zugrunde gehen, solange sie keinen Draht zu ihnen haben. Es liegt also an den Autor_innen und Verlagen, sich des Ausmaßes und der Möglichkeiten im digitalen Raum bewusst zu werden und diese innovativ für sich zu nutzen. Das Internet darf nicht, wie es Kanzlerin Merkel 2013 so schön formulierte, Neuland bleiben, sondern muss fester Bestandteil des Gesamtkonzepts werden. Es darf nicht als Hindernis, sondern muss als großartige Möglichkeit gesehen werden. Wenn nicht, sieht es ziemlich dunkel für die Branche aus, der doch so viele Türen offen stehen.